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Johann Jakob Haid (1704-1767), Johannes Reuchlin. Schabkunstblatt (gemeinfrei)
 

Wortbrücke in die Domgemeinde – 30. Juni 2024

Heute vor 502 Jahren, am 30.06.1522, starb Johannes Reuchlin. Er war einer der großen Gelehrten Europas.

In unseren Tagen kennen ihn nur noch Insider. Reuchlins Grab in der Stuttgarter Leonhardskirche ist in den drei Sprachen beschriftet, deren Pflege er mit Leidenschaft angestoßen hat: Latein, Griechisch und Hebräisch. Bei den beiden letztgenannten Sprachen war das eine Pioniertat, denn selbst die gebildeten Theologen hatten ihre Bibel im Mittelalter nur in der lateinischen &Uuuml;bersetzung des Heiligen Hieronymus studiert, nicht in den beiden Originalsprachen. Johannes Reuchlin sagte, er verehre zwar den Hieronymus, aber die Wahrheit sei im textkritischen Zweifelsfall nun mal göttlicher. Und so ließ er sich im Hebräischen von jüdischen Gelehrten, etwa von Jakob ben Jechiel Loans, dem Leibarzt des Kaisers Friedrich III., unterrichten und wurde zum Begründer der christlichen Judaistik.

Das wurde bei der christlichen Obrigkeit aber nicht gern gesehen. Kurz vor seinem Tod bekam Reuchlin das schriftlich: Sein Plädoyer für die Bewahrung jüdischer Schriften sei ein "Ärgernis erregendes, unerlaubt judenfreundliches und daher frommen Christen anstößiges Buch". Der Verfasser müsse in der Sache für immer schweigen sowie die Prozesskosten tragen. Weil auch ein gewisser Martin Luther in Deutschland gerade Ärger machte, wollte Rom nun ein Exempel statuieren und die Grenzen der Toleranz aufzeigen.

Vorangegangen waren Anfang des Jahrhunderts antisemitische Hetzschriften eines Kölner Konvertiten, der die Vernichtung jüdischer Bücher gefordert und auch schon organisiert hatte. Neben anderen Gelehrten und Fakultäten wurde Reuchlin im Jahr 1510 vom Kaiser um ein Gutachten gebeten: "ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll". Er sprach sich als einziger gegen die Büchervernichtung aus. Unter dem Titel "Augenspiegel" (das Brillen-Symbol stand für Klarsicht) argumentierte Reuchlin dreifach. Erstens theologisch: Die jüdischen Auslegungsschriften seien Teil der Heilsgeschichte und somit auch zum Verständnis des Alten Testaments fürs Christentum wichtig. "Unser Apostel Paulus hat alle jüdische Weisheit erlernt und bei den Rabbinern studiert." Zweitens argumentierte er rechtlich: Nach dem römischen Recht genössen die Juden Rechtsschutz als Bürger des Reiches, somit sei keine gewaltsame Mission erlaubt, es gelte für sie der Schutz des Eigentums und die Religionsfreiheit. Das dritte Argument war humanistisch: Im Sinne der "Wiederherstellung der Wissenschaften" müssten Quellen bewahrt werden. Auch die heidnischen Schriften der Antike würden ja nicht vernichtet, auch wenn darin aus christlicher Sicht noch viel schlimmere Sachen stünden.

Das war eine mutige Position, eine Minderheitenmeinung, die Reuchlin viel Ärger einbrachte. Zwar darf man ihn nicht gleich zum Freund der Juden machen: Denn er teilte zeittypische Vorurteile gegen sie. Aber ihm ist es zu verdanken, dass mit Philipp Melanchthon, seinem Schüler, und Martin Luther die evangelische Theologie auf den Ursprachen der Bibel Griechisch und Hebräisch basiert. Und jede Theologin und jeder Theologe bis heute diese Sprachen lernt.

Einen gesegneten Sonntag und eine gute neue Woche wünscht Ihnen
Ihr Friedrich Kramer, Erster Domprediger und Landesbischof