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Domprediger Jörg Uhle-Wettler

Wortbrücke in die Domgemeinde – zum 11. August 2024

Vielleicht waren Sie in den letzten Wochen unterwegs. Es gibt in der Welt viele bedeutende Kathedralen. Eine der Schönsten steht in Magdeburg. Wenn man heimkehrt, grüßen die Domtürme von Weitem. Zwischen 1995 und 2016 bin ich oft auf der A14 an Magdeburg vorbeigefahren. Die Türme meiner Kindheit habe ich immer kurz gegrüßt. 2016 hat der Dom zurückgegrüßt, seitdem bin ich wieder hier. Gerne. Sehr gerne!
In diesem Sommer las ich erneut den „Nachtzug nach Lissabon“ und war überrascht -über die wunderbare und aktuelle Poesie. Hier, für SIE zur Nachlese:

Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon
Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.

Domprediger Jörg Uhle-Wettler