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Wortbrücke in die Domgemeinde – 22.01.2023

Ich schäme mich des Evangeliums – nicht

Paulus trägt die Kanzel im Dom. Ihm verdanken wir die Ausbreitung des Evangeliums – nach Europa. Sein Römerbrief ist sein theologisches Testament. Nach Rom kam er in Ketten als Gefangener und wurde dort enthauptet. Der Satz aus dem Römerbrief – „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ – ist der zentrale Satz für diesen 3. Sonntag nach Epiphanias im Predigttext. Sich zu schämen heißt, sich mit den Augen der anderen zu betrachten. Das ist ein Zeichen des Reifens, die Folge davon, dass man in Distanz zu sich selbst tritt und sich zugleich aus dem Blickwinkel der Mitmenschen betrachten kann. Wohl dem Menschen, der sich in diesem Sinne auch mal schämen kann.

Zum Fluch wird die Scham, wenn sie nicht nur als feines Sensorium für Peinlichkeiten auftritt, sondern als Schmerz. Das geschieht immer dann, wenn der Blick der anderen, den man nun auf sich selbst wirft, ein verächtlicher ist, wenn man sich so anschaut, als hätte man kein Ansehen. Der Blick der Nicht-Glaubenden und Gegner von Paulus hat ihn den Fluch der Scham überwinden lassen. Sie haben ihn beschämt und herablassend, abschätzig und feindselig behandelt. Dadurch ist er gewachsen, gereift und gestärkt hervorgegangen.

Der Schriftsteller Christoph Hein, einer unserer großen deutschen Gegenwartsautoren und Chronist, bekam diesen Satz – „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ – von seinem Vater als Konfirmationsspruch. Nach einer Buchlesung sagte er mir, dass ihn dieser Vers lange befremdet hat. Er hätte ihn als Heranwachsender auch nicht so richtig verstanden, nun schon.

Dieser Vers führt in die Freiheit, denn das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die glückselig macht. Allen Widerständen zum Trotz.

Domprediger Jörg Uhle-Wettler